Zwischen den Welten
Ausflüge auf Märkte, wo ich manchmal einen Gasluftballon, einen Blechkäfer oder eine Blechmaus bekam, waren für mich ein Highlight. Diese sausten, über eine Feder aufgezogen, munter über den Tisch oder Boden. Der Luftballon wurde von mir an einen Bindfaden befestigt und ich ließ ihn in den Himmel steigen. Ich erinnere mich, wie ich mich ärgerte, dass er quer flog und nicht so weit nach oben stieg, wie ich es mir vorgestellt hatte. Na ja, und irgendwann war er eben weg, weil mir der Faden aus der Hand glitt.
Später, so mit fünf Jahren, hatte ich sehr großen Spaß an Kunststoff-Spinnen, die sich mit einem Blasebalg bewegen ließen. Die sprangen dann so lustig.
Ich erinnere mich an den Spaß, den ich hatte, wenn ich glaubte einen Erwachsenen damit erschrecken zu können.
An einen Markttag kaufte mir mein Vater ein Federballspiel. Ich freute mich so sehr, mit ihm zu spielen. Natürlich traf ich den Federball nicht, musste immer lachen. Irgendwas spielte sich bei ihm ab, seine Mimik wurde fremd, er kam wütend auf mich zu und gab mir eine Ohrfeige.
Ich erinnere mich heute noch an das verwirrende Gefühl. An seinen verzerrten Gesichtsausdruck, an seine unklaren Augen.
Ich hörte von meiner Mutter: „Das musst du verstehen, der Papa ist krank“!
Dieser Glaubenssatz brannte sich wie Wahrheit in mich ein.
Verstehen – vermittelt Trost? Wie fatal!
Und ich verstand, verstand irgendwie ohne zu wissen, was verstehen heißt. Welche fatalen Folgen diese Prägung des Verstehens, später für mich haben würde, das verstand ich noch nicht. Verstehen hieß für mich akzeptieren. Was anderes blieb mir nicht übrig. Später begriff ich, dass dieser Glaubenssatz als Trost verankert war, aber nicht gesund für mich- und durfte ihn lösen.
Mein Vater war immer öfter im Krankenhaus. Mit ihm auch ich, denn meine Mutter wusste nicht, wo sie mich unterbringen sollte. Also war mein Tag voll mit Begleitung zu ihren Putz- und Helferjobs und Besuchen im Krankenhaus.
War mein Vater krankgeschrieben und zu Hause, musste ich ihn mit zu seinem Doktor begleiten. Ich erinnere mich noch sehr gut an die ehrwürdigen Praxisräume, an die Bücher und an die Worte des Arztes:
„Herr…, wenn Sie nicht augenblicklich mit dem Trinken aufhören, dann werden Sie sterben!“
Die klaren Worte beeindruckten mich sehr, ich spürte, dass der Doktor rechte hatte: mein Vater wird sterben!
Meinen Vater beindruckte nichts, er trank weiter, rauchte weiter.
Wenn er zwischendurch wieder arbeitsfähig war, brachte er mir Geschenke mit. Meistens eine Märchenschallplatte und Schokolade. Einmal aber, bekam ich einen blauen Roller mit weißen Gummireifen und einmal ein Tretauto, aus Metall. Interessanterweise verunsicherte mich dies- ich kann mich auch nicht an wirkliche Freude erinnern.
Schon spannend, die Facetten einer Suchtkrankheit und die Verhaltensmuster die damit zusammenhängen.
Meine Plattensammlung wuchs beständig. Jedes Mal, wenn wir meinen Vater im Krankenhaus München besuchten, bekam ich ein weiteres Märchen, eine Pumucklgeschichte und ein halbes Brathähnchen, was ich mit meinem Vater im Krankenhaus aß. Das mit dem Hendl, war ein Ritual. Mein Vater hatte rückblickend wenig Appetit. Aber es machte ihm Freude, wenn es mir schmeckte und ich aß, um ihn zu erfreuen.
Meine Mutter arbeitete gefühlt Tag und Nacht und fing an ein Haus zu bauen, auf dem Nachbargrundstück. Ich zog mich in die Welt meiner inneren Stimme zurück- was für Außenstehende bestimmt befremdend wirkte.
Zuhause hatte sie mir einen Plattenspieler neben mein Bett gestellt. Dieser hatte eine Vorrichtung, eine Art Zapfen in der Mitte, worauf man mehrere Platten stapeln konnte. Diese fielen nacheinander herab und wurden abgespielt. Das war jeden Abend so. Die Märchen brachten mich in meinen Schlaf. Meine Mutter war in dieser Zeit nicht zu Hause. Ich vermute, sie war wieder irgendwo in der Arbeit. Einige Märchenfiguren wurden zu meinen Freunden. Vor manchen aber fürchtete ich mich.
Engel besuchten mich im Traum. Wenn da nicht das böse Nachtmandl gewesen wäre…
