Kindheit mit psychisch kranken Elternteil
Lüge - Wahrheit?
Diebstahl
Ich spielte alleine in meiner Spielecke im Wohnzimmer, als meine Oma das Zimmer betrat. Spielend beobachtete ich, wie sie zu unserem Wohnzimmerschrank ging, ihn öffnete und etwas suchte und herausnahm. Ich verstand nicht, was sie suchte und machte mir im Alter von ca. drei bis vier Jahren keine Gedanken darüber. Ich schenkte dem Ganzen, altersgemäß, keine große Bedeutung. So, wie Oma kam, musste sie wohl auch wieder gegangen sein- ich kann mich nicht erinnern.
Wenig später erlebte ich meine Mutter weinend und verzweifelt im Wohnzimmer.
“ Mama warum weinst du?“
„ Die zwanzig Mark aus der Kaffeekanne im Wohnzimmerschrank sind weg.“
Zuerst wusste ich nicht was ich davon halten sollte, aber irgendwie wurde mir klar: ich hatte meine Oma gesehen! Als Kind fühlte ich mich ziemlich hilflos, ohne die Tragweite des Diebstahls zu begreifen. Ich fühlte nur: Die Oma muss ganz was schlimmes gemacht haben, sonst würde meine Mama nicht so weinen. Aber meine Mutter hatte schon ihre eigene Wahrheit herausgefunden. Sie schob mich zur Seite, stürmte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, riss die Tür zur Oma´s Küche auf und stellte ihre Schwiegermutter zur Rede. Ich lief nach. Es kam zu einem heftigen, lautstarken Streit, während mein Vater dort am Küchentisch saß, natürlich mit Bier und Spielkarten.
„Du hast mir Geld gestohlen?“ hörte ich meine Mutter brüllen. Vielleicht auch ein Satz wie: „Du Maz du hast mir Geld gestohlen“, oder „ du blöde Sau“, meine Mutter war nicht zurückhaltend mit Schimpfwörtern, was ich später als sehr peinlich und verletzend empfand.
Die Oma stritt es ab. Als Kind dachte ich nicht weiter darüber nach, ich machte mir keine weiteren Gedanken. In diesem Alter war es nur irritierend, dass das was Oma sagte nicht stimmte und meine Mutter weinte und schrie. Ich blieb stumm. Anders als meine Mutter. Sie holte immer wieder verbal aus, auch mit alten Kamelen. Immer wieder die gleichen Vorwürfe.
Mein Vater verteidigte seine Mutter und verbot seiner Frau das Wort. Er trank weiter und spielte die nächsten Karten aus. Ich beobachtete seine Sauf-Kumpel mit ihrem hämischen Gesichtsausdruck.
„Du rothaarige Maz nimm dein Kind und schleich dich, “ hörte ich meine Oma schreien. „Wer weiß, ob dieses Kind überhaupt vom Sepp ist!“
Meine Mutter schluckte. Nahm mich auf den Arm. Jetzt war sie stumm. Irgendwie konnte ich nicht nur spüren wie sie leidet, ich konnte es ihr auch ansehen.
Meine Mutter lenkte die Aufmerksamkeit auf die Runde am Küchentisch und die Bierflaschen.
„ Du weißt genau, dass der Sepp kein Bier trinken darf“, schrie meine Mutter, „der Arzt hat es ihm verboten. Warum machst du das? Warum gibst du ihm immer wieder was?“
Die Trinkerei sorgte immer wieder für Streit in der Familie. Mein Vater sollte nichts mehr trinken, wegen seiner Gesundheit und meine Oma ignorierte das und machte genau das Gegenteil.
Wenn ich die Fragmente meiner Erinnerungen heute hervorhole, waren genau diese Erlebnise und Traumen meine wichtigsten Bausteine für das Verständnis von Traumatisierung und deren Auswirkungen auf Psyche und Körper. Bis zu dieser Erkenntnis war es jedoch ein langer Weg.
evam.so
