Verwirrung pur
Kriegstraumata und lieblose Kindheit
Sie wurde in einem kleinen Ort in der Oberpfalz geboren. Ihr Vater war Korbflechter und ihre Mutter kam aus einem großen wohlhabenden Bauernhof in der Umgebung. Nach den Erzählungen meiner Mutter, hatten ihre Eltern keine besonders glückliche Ehe. Meine Oma wurde aus ihrer Herkunftsfamilie ausgeschlossen und ausbezahlt, weil sie sich für die Liebe und Heirat, mit einem armen verschuldeten Korbflechter entschieden hatte. Meine Oma, die große Bauerntochter, heiratete aus Liebe einen „Armenhäusler“. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor. Meine Mutter und ihr ein Jahr jüngerer Bruder. Meine Mutter erlebte ihre Kindheit in einer rauen und lieblosen Umgebung. Wenn ich an meine Oma denke, hatte diese nicht viel Liebenswertes an sich. Ich hatte zu ihr wenig Bezug. Sie war eben da, grob, wuchtig und wortkarg. Das Einzige was schön war, waren die Waldspaziergänge, das Schwammerln suchen und Preiselbeeren pflücken. Während jüngere Bruder meiner Mutter von der Oma bevorzugt und vergöttert wurde, wuchs meine Mutter unter der groben Hand ihrer eigenen Mutter und unter der Kriegsdramatik des zweiten Weltkrieges heran. Hunger, Not und Gewalt prägten sie. Das Verhältnis zu ihrem Vater, meinen Opa, war angeblich gut. Leider war dieser die meiste Zeit im Krieg und wenn er zu Hause war, im Wirtshaus. Mutter erzählte mir oft von dieser Zeit, immer wieder die gleichen Geschichten. Von der Schule, wo sie nicht gut war und immer wieder vom Lehrer geschlagen wurde. Von dem amerikanischen Soldaten, der ihr einen Kaugummi schenkte und von dem schwarzen Soldaten, der ihr Schokolade zusteckte. Sie erzählte von ihrer Angst, vor den russischen Soldaten und wie man sie als Kind an eine Felsenwand stellte und auf ihre Umrisse mit einem Gewehr schoss - zum Spaß. Sie erzählte von dem wahnsinnigen Hunger, den sie als Kind und Jugendliche hatte und von der Grausamkeit der Menschen, die hatten und nichts gaben. Wie sie im Fluss jemanden ertrinken sah und nicht helfen konnte, weil sie nicht schwimmen konnte. Eine Geschichte erzählte sie seltener: Wie sie als kleines Mädchen mit etwa sechs Jahren, während des Krieges, zusammen mit ihrem Bruder, allein im Haus zurück- gelassen wurde, weil ihre Mutter für ein paar Tage fortfuhr. Wohin ihre Mutter gefahren war und wann sie wiederkommen wollte, wusste sie nicht. Beide Kinder hatten kaum zu essen und der kleine Bruder ging ihr entsetzlich auf die Nerven ging. Mein Onkel war Alkoholiker, der später mit seiner Frau und vier Kindern in Oberbayern sein Zuhause begründete. Er war sehr gewalttätig seiner Familie gegenüber und ich mochte ihn nicht. Seine Art machte mir Angst. Meine Oma hatte eine kleine Rente, die ER ihr regelmäßig abnahm. Einmal habe ich mitbekommen, dass die Oma mit dem Nachthemd auf die Straße flüchten musste, weil er betrunken mit einem Luftgewehr auf sie schoss. Danach kam sie zu uns, blieb ein paar Tage, bis sie wieder in die Oberpfalz fuhr. Als Jugendliche wollte meine Mutter gerne Friseurin werden, hatte schon eine Stelle, durfte diese aber, von ihrer Mutter aus, nicht annehmen. Darüber war sie sehr traurig und suchte Halt bei Klosterschwestern in einem nahegelegenen Kloster, die ihr die Nähkunst beibrachten und sie sich dadurch ihre Kleidung selber nähen konnte. Armut pur. Mit 16 Jahren verließ sie heimlich ihr Elternhaus. In einem Kirchenblatt hatte sie eine Stellenausschreibung als Hausmädchen gelesen und sich auf diese Stelle ca. 300 km entfernt in Oberbayern beworben. Sie bekam diese Stelle, lieh sich von einer Nachbarin das Geld für die Bahnfahrt und machte sich auf den Weg, zu ihrer ersten Dienstbotenstelle im oberbayrischen Kurort Bad Tölz. Mit ein paar Habseligkeiten kam sie dort an. Oft schauten wir zusammen die alten Schwarzweißbilder aus dieser Zeit an. Eine wohlhabende Familie aus einem Geschäftshaushalt. Meine Mutter fühlte sich, als junges unerfahrenes Mädchen, oft von den Arbeitgebern gedemütigt und verspottet, weil sie so vieles, was für andere selbstverständlich war, nicht kannte. Keine Dosenmilch etc... Sie erzählte oft, dass man sie für dumm hielt und sie vor anderen Menschen vorführte. Ich glaube sie war Demütigung so gewöhnt, dass sie es als normal empfand, später selbst zu demütigen. Ihr Lieblingssatz war: „Mei, i war halt a dummes Madl! Du glaubst ja ned, wie dumm i war!“ Ihr Ratschlag nach solchen Erzählungen war: „Du musst dich dumm stellen, dann klappt alles“. Diese Aussage hat mich jahrelang verunsichert und verwirrt. Warum sollte ich mich dumm stellen? Ich hatte mich als junges Mädchen oft ertappt, wie ich diese unbewusst praktizierte- zu meiner Unzufriedenheit. Einen Teil ihres Lohns, schickte meine Mutter ihrer Mutter, damit diese ein besseres Auskommen mit ihrer kleinen Rente hatte. Später erkannte sie, dass die Oma das Geld ihren Sohn zusteckte. „Mama warum hast du trotzdem der Oma geholfen? Obwohl sie zu dir so böse ist?“ Diese Frage stellte ich ihr als Kind öfters. Ihre Antwort war einfach nur ein Blick.
