Never ending Story
Zwillingschwestern
Ich bin ein Sonntagskind. Sonntagskinder, daran glaubte ich fest, sind Glückskinder und überleben. Woher diese Überzeugung kam- keine Ahnung.
Ich erblickte an einem Sonntag im Spätsommer diese duale Welt.
Für meine Mutter war der Tag meiner Geburt das Ende einer dramatisch erlebten Schwangerschaft. Sie erzählte immer wieder, dass sie in ihrer Schwangerschaft sehr viel liegen musste, fast verhungert wäre und von ihrer Schwiegermutter bitterlich gequält wurde. Angeblich arbeitete mein Vater unter der Woche in München und war, ihren Aussagen nach, der Frauenwelt sehr zugetan.
Für mich als kleines Mädchen waren ihre Aussagen irritierend. Mein Vater arbeitete immer noch in München, kam am Wochenende nach Hause, brachte mir Schokolade mit und ging dann zu seiner Mutter.
Mir stellte sich zwar oft die Frage, weshalb meiner Mutter niemand geholfen hatte? Und warum ich ihre Geschichten nicht in mich gelassen habe? Ich habe als Kind gespürt, dass das was sie sagt, irgendwie nicht stimmt. Das verwirrte mich zunehmend. Diese Verwirrung, die sich bei ihren Monologen breit machte, tat mir nicht gut. Das Schlimmste war für mich ihre Überzeugung, dass wir zu zweit gewesen waren und das zweite Mädchen tot auf die Welt kam. Also Zwillinge!
Meiner Mutter Meinung nach waren die Umstände und die Lieblosigkeit ihrer Schwiegermutter, Schuld am Tod ihres zweiten Kindes. Ihrer Meinung nach, wäre das Kind in ihrem Bauch abgestorben und sie hatte das tote Kind auf die Welt bringen müssen. Sie erzählte, sie habe es genau bei der Geburt gesehen. Ganz verschrumpelt wäre es gewesen und die Hebamme hätte es weggebracht. Nach ihrer Aussage hatte es für mich gerade noch so gereicht. „Du warst ganz blau am Körper. Aber anscheinend hat es für dich gereicht! Und weil deine Schwester starb hast du jetzt einen Doppelnamen!“
„Hör auf mit dieser Geschichte!” Hätte ich am liebsten gebrüllt. Ich fühlte mich ausgeliefert und schuldig. Ich konnte doch nichts dafür! Ich mochte diesen zweiten Namen nicht! Noch schlimmer- ich glaubte ihr nicht!“
Diese Geschichte, sowie viele andere ihrer Geschichten brannten sich in mich. Das Brandmal: „Weshalb habe ich überlebt? Bin ich schuld am Tod meiner Schwester? Kann ich meiner Mutter glauben?“ Erst als ich selbst mein erstes Kind entband und ich die Plazenta sah, wurde mir klar. Meine Mutter hat, in ihrer Einfachheit, die Plazenta für ein totes Kind gehalten haben. Nachdem mich diese Geschichte jahrzehntelang beschäftigt hatte, habe ich nach der Geburt meiner eigenen Kinder Mut gefasst und meine Krankenhausakte, aus der damaligen Klinik angefordert. Meine Stimme zitterte am Telefon und ich hatte große Angst. Ich erzählte dem Mann am Telefon offen meine Geschichte und er machte sich die Mühe auf den Dachboden der Klinik zu gehen und meine Unterlagen zu suchen. Sie waren noch da. Nach 40 Jahren! Unbürokratisch sandte er sie mir zu. Es war ganz einfach. Siehe da- keine Zwillingsgeburt. Sie hatte die Plazenta gesehen.
