Kontakt mit der Stimme

Leben eines Kindes mit einem psychisch kranken Elternteil

Kontakt mit der Stimme

Es gibt viel mehr ...

Zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr war das Weglaufen eine meiner Lieblingsbeschäftigungen (neben Märchen hören und malen). An eine Situation kann ich mich besonders gut erinnern:

Ich war ein paar Tage vorher, mit meinem Vater bei seinem Frühschoppen in einer Gastwirtschaft gewesen. Danach hatte er mir eine kleine Kapelle gezeigt. Gleich neben dem Lokal. Wahrscheinlich nicht ganz uneigennützig.  Dort hatte es mir sehr gefallen. Da war die Mutter Gottes mit einem ganz weiten Mantel und unter ihrem Mantel waren ganz viele Kinder und Menschen. Das gefiel mir so gut und ich kannte den Weg.

Irgendwie hatte meine Mutter den „Braten gerochen“ und das Gartentor verschlossen. Trotzdem bin über den Zaun abgehauen. Wie mir das gelang, weiß ich nicht mehr. Mein wichtigstes Ziel war diese kleine Kapelle, etwa einen Kilometer entfernt, von meinem Elternhaus. Nun saß ich in dieser Kapelle. Ich erinnere mich heute noch an dieses schöne Gefühl, was mir diese Mutter Gottes Figur mit ihrem Blick schenkte. Es war einfach nur angenehm. Sie strahlte so eine Liebe aus und vermittelte mir ein Gefühl von Geborgenheit und ich genoss es in vollen Zügen.

Bis zu dem Zeitpunkt, wo meine Mutter, wutentbrannt, in meine Welt „einbrach“. Sie zog mich an meinem Arm aus der Kapelle, verhaute mich wo sie traf und schleppte mich, schreiendes und trotzendes Kind, nach Hause. Es folgte, wie es immer wieder folgte – der Waschkeller!

Ich hatte eine so große Wut gepaart mit Verzweiflung, an diese kann ich mich heute noch gut erinnern und auch an diese wahnsinnige Angst. Der feuchte Geruch des Kellers, die Atemnot, die Knötchen in meinen Handflächen. Meine verstopfte Nase, die Angst keine Luft mehr zu bekommen. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Bis zu dem einen Moment, der mich für mein ganzes Leben prägte:

 „Eva! Erinnere dich, schau du kannst doch im Dunklen sehen, hab keine Angst.“

Augenblicklich war ich ruhig. Die Stimme wo kam sie her? Ich lauschte und wurde ruhiger, mein Schluchzen und mein Atem beruhigten sich, meine Angst wurde ein weniger, meine Handflächen entspannten sich, die Knötchen verschwanden.

Ich war Mucks Mäuschen still und erkannte, dass es stimmte, ich konnte tatsächlich im Dunklen sehen. Es war nicht so dunkel, wie ich dachte. Die Stimme hatte es mir gesagt. So spürte ich, dass ich nicht allein war. Jemand war bei mir. Das war sehr tröstlich.

Irgendwann hörte ich den Schlüssel im Schloss umdrehen und ich durfte den Keller verlassen.

Ich erzählte niemanden davon. Bin aber immer wieder zur Kapelle gelaufen – trotz der Konsequenzen.

 

Schreibe einen Kommentar